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22. April 2024 – 30. April 2024 Pessach 2024 / פּוּרִים 5784

Mein Geliebter hebt an und spricht zu mir. Auf, meine Freundin, meine Schöne, komm doch! Denn sieh, vorüber ist der Winter, vorbei, dahin der Regen. Die Blumen zeigen sich im Land, es naht des Gesanges Zeit, der Taube Gurre hört man überall. Der Feigenbaum hat seine Früchte gefärbt, die Reben blüh’n und duften. Auf, meine Freundin, meine Schöne, komm doch! (Schir haSchirim 2,10-13)

Die Worte aus dem Schir haSchirim, dem Lied der Lieder (dem Hohelied) berühren die Seele und wecken romantische Emotionen. Diese Liebesgeschichte, die voller Begeisterung und Enttäuschung, Intimität und Entfremdung, Treue und Verrat ist, ist in der Jüdischen Tradition mit dem Pessachfest verbunden worden. Aber was hat dieses lyrische Buch mit dem majestätischen Fest der Befreiung der Juden aus der ägyptischen Sklaverei zu tun? Zu diesem Fest würde wahrscheinlich eine Musik wie Beethovens „Ode an die Freude“ eher passen als eine Romanze wie „Dodi li“ – „Mein Geliebter ist mein.” (Schir haSchirim 2,16)

Um diese Frage zu beantworten, muss man in der Geschichte zurückgehen, zu der Zeit, als die jüdischen Weisen darüber diskutierten, welche Bücher außer der Tora zum Kanon der Heiligen Schriften hinzugefügt werden sollten. Um das Lied der Lieder wurden in den rabbinischen Kreisen heftige Diskussionen geführt. Ein Gegenargument war, dass Gott in diesem Buch überhaupt nicht erwähnt wurde und der Text selbst zu romantisch, zu erotisch, zu persönlich erscheint. Die Stimme zur Verteidigung des Buches erhob Rabbi Akiva, der sagte: „Denn nie war die ganze Welt so würdig wie an dem Tag, als Israel das Hohelied gegeben wurde; denn alle Schriften sind heilig, aber das Hohelied ist das Allerheiligste. Wäre die Tora nicht gegeben worden, hätte die Welt allein durch das Hohelied regiert werden können.“ (Mishna Yadaim 3,5)   Das Lied der Lieder, eines der provokativsten und aufrührerischsten Bücher im TaNaCh, ist zur Hymne der ewigen Liebe zwischen Gott und seinem Volk geworden und wurde von den Rabbinen ausgewählt, um uns in den Pessachtagen zu begleiten. Denn aus der Sicht der Rabbinen ist die ganze Pessachgeschichte diesem Thema gewidmet: aus Liebe befreite Gott uns aus der Sklaverei; aus Liebe gab Er uns Seine Lehre, aus Liebe erneut Er täglich Seine Schöpfung, mit der Hoffnung, dass wir ihm mit Liebe antworten. (Mishna Yadaim 3,5)

Heute, da die Welt von zahlreichen Konflikten erschüttert ist, müssen wir die Stimme der Liebe erheben. Als jüdisches Volk tragen wir die Verantwortung für die Bewahrung dieses Gottesgeschenks. Möge dieses Pessachfest für uns zum Fest der Befreiung von Vorurteilen, Hass, Intoleranz und Feindschaft in unserer Gesellschaft sein.  Denn nur dann können wir alle die echte Freiheit erreichen und die Stimmen, die von einem Lied der Liebe vereint sind, hören.

Pessach Sameach! – Ein frohes Pessachfest!

Rabbinerin Natalia Verzhbovska