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2. Oktober 2024 Erew Rosh haShana 2024 / ראש השנה 5784
Die Weisheit des Neujahrs: Vergangenheit als Wegweiser für die Zukunft Rosch haSchana, das jüdische Neujahrsfest, ist ein Feiertag voller inhaltlicher Kontraste und emotionaler sowie spiritueller Spannung. Es ruft die Menschen auf, ihre Taten und deren Auswirkungen zu reflektieren, Reue zu zeigen und um Vergebung zu bitten. Dieser Tag lädt dazu ein, die eigenen Ziele und Visionen ein letztes Mal zu überprüfen und gegebenenfalls zu korrigieren. In diesem Dialog tritt die Wahrheit, manchmal unbequem und unangenehm, aus dem Schatten ins Licht, und die Dinge erscheinen in ihrer wahren Form, unverzerrt und ohne Verschönerung. In den Synagogen kleiden sich die Menschen in weiße Kleidung – ein Symbol für eine neue Geburt und einen neuen Anfang. Diese Reinheit ist jedoch das Ergebnis harter innerer Arbeit, bei der die Seele sich von Illusionen, Lügen und endlosen Kompromissen befreit und sich auf die getroffenen Entscheidungen konzentriert.
Rosch haSchana ist ein Moment der Begegnung zwischen der Vergangenheit, die aus Erinnerungen auftaucht, und der Zukunft, die dem Menschen ein offenes Feld der Möglichkeiten bietet. Es erinnert uns daran, dass sowohl die Geschichte als auch unsere Visionen und Träume unseren Lebensweg prägen und uns entweder unserem Ziel näherbringen oder davon entfernen. Von unseren Fehlern lernen wir, was uns und anderen schadet, und von unserem Erfolg, was uns stärkt. Dieses Prinzip gilt sowohl für Einzelpersonen als auch für Gesellschaften.
Die zahlreichen Konflikte in der Welt, wie der Krieg in der Ukraine und die Gewaltkonflikte in Israel, zeigen deutlich, dass die Fragen, die Rosch haSchana als Tag der Selbstanalyse und Reflexion mitbringt, heute ebenso aktuell sind wie in der Vergangenheit. Hat die Weltgemeinschaft aus der Tragödie des Holocausts gelernt, oder gewinnen Antisemitismus und Fremdenhass erneut an Einfluss? Sind wir weise genug, zwischen Manipulation und echtem Streben nach Gerechtigkeit zu unterscheiden? Halten wir an den Werten der Nächstenliebe, Wahrheit und Frieden fest? Mit großer Besorgnis beobachten die Jüdinnen und Juden weltweit, wie populistische Parolen immer mehr Menschen mobilisieren. Das jüdische Volk, das die Wunden des Holocausts noch nicht vollständig geheilt hat, weiß genau, zu welchen Folgen solche Ideen führen können. Wenn wir unsere Gesellschaft als einen Ort des harmonischen Zusammenlebens, der religiösen und kulturellen Vielfalt sowie des Wohlstands und Gedeihens vorstellen und danach streben, müssen wir heute unsere Stimme für die Werte der Demokratie erheben. Heute muss uns die Geschichte den Weg in die Zukunft zeigen, damit wir die Fehler der Vergangenheit nicht wiederholen und unsere Seelen in ihrer Reinheit für das Gute und die Liebe bewahren. Dann werden wir alle die himmlische Gerechtigkeit genießen, die der Ewige der Erde versprochen hat, wie es im Psalm geschrieben steht: „Wahrheit sprosst aus der Erde, und vom Himmel blickt Gerechtigkeit hernieder.“ (Ps 85,12)
„Schana Tova umetuka!” – „Ein gutes und süßes neues Jahr! “
Rabbinerin Natalia Verzhbovska
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Neuen Projekt “Bruchim Haba´im “
Unsere Synagoge ist ein Begegnungsort. Das Kennenlernen des jüdischen Lebens in Deutschland sollten Schülerinnen und Schüler und begleitende Pädagoginnen und Pädagogen nicht nur theoretisch, sondern auch durch Begegnung und Austausch erleben. Das oberste Ziel ist, dem wachsenden Antisemitismus durch vertrauensvolle Gespräche und Aufklärung über die aktuellen Phänomene aus dem Alltag des jüdischen Lebens Einhalt zu gebieten.
Dazu setzen wir folgende Hauptziele und Maßnahmen um: Vermittlung eines tieferen Verständnisses für das Judentum: Mit unterschiedlichen interaktiven Angeboten soll das Bewusstsein für die jüdische Kultur und Geschichte vertieft und gleichzeitig, praktische Aktionsformen zu Bekämpfung von Antisemitismus und Vorurteilen ausprobiert werden. Über der individuellen biografischen Gefühlsebene wollen wir generationsübergreifend mit den Besucherinnen und Besuchern zusammenkommen. Herzlich willkommen, sind alle, die sich über unterschiedliche Erfahrungen und Zukunftswünsche auszutauschen und auch die Atmosphäre des Hauses genießen wollen.
Förderung des Engagements im Kampf gegen Antisemitismus: Unumgänglich sind Fachvorträge mit anschließenden Workshops und Diskussionen. Diese sollen helfen, Vorurteile abzubauen und Solidarisierungsebenen zu schaffen. Je nach Schulform und Schülergruppe und Themenschwerpunkt, werden wir einen direkten Kontakt zwischen den Vertretern der Fachstellen und Bildungsträgern herstellen, um passende Referenten zu akquirieren. Eine Erweiterung der Kontakte in Richtung Demokratieerziehung, des interreligiösen Dialogs und der Antidiskriminierungspädagogik mit neuen aktuellen Methoden werden wir anstreben.
Hierzu gehören auch Planung- und Umsetzungshilfen für Projekte im Rahmen der Projektwochen in den Schulen. Wir möchten Schülerinnen und Schüler ermutigen, aktiv gegen Antisemitismus einzusetzen. Wir sehen uns als Ansprechpartner und Servicestelle für die Themenbereiche interreligiösen und interkulturellen Dialog
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22. April 2024 – 30. April 2024 Pessach 2024 / פּוּרִים 5784
Mein Geliebter hebt an und spricht zu mir. Auf, meine Freundin, meine Schöne, komm doch! Denn sieh, vorüber ist der Winter, vorbei, dahin der Regen. Die Blumen zeigen sich im Land, es naht des Gesanges Zeit, der Taube Gurre hört man überall. Der Feigenbaum hat seine Früchte gefärbt, die Reben blüh’n und duften. Auf, meine Freundin, meine Schöne, komm doch! (Schir haSchirim 2,10-13)
Die Worte aus dem Schir haSchirim, dem Lied der Lieder (dem Hohelied) berühren die Seele und wecken romantische Emotionen. Diese Liebesgeschichte, die voller Begeisterung und Enttäuschung, Intimität und Entfremdung, Treue und Verrat ist, ist in der Jüdischen Tradition mit dem Pessachfest verbunden worden. Aber was hat dieses lyrische Buch mit dem majestätischen Fest der Befreiung der Juden aus der ägyptischen Sklaverei zu tun? Zu diesem Fest würde wahrscheinlich eine Musik wie Beethovens „Ode an die Freude“ eher passen als eine Romanze wie „Dodi li“ – „Mein Geliebter ist mein.” (Schir haSchirim 2,16)
Um diese Frage zu beantworten, muss man in der Geschichte zurückgehen, zu der Zeit, als die jüdischen Weisen darüber diskutierten, welche Bücher außer der Tora zum Kanon der Heiligen Schriften hinzugefügt werden sollten. Um das Lied der Lieder wurden in den rabbinischen Kreisen heftige Diskussionen geführt. Ein Gegenargument war, dass Gott in diesem Buch überhaupt nicht erwähnt wurde und der Text selbst zu romantisch, zu erotisch, zu persönlich erscheint. Die Stimme zur Verteidigung des Buches erhob Rabbi Akiva, der sagte: „Denn nie war die ganze Welt so würdig wie an dem Tag, als Israel das Hohelied gegeben wurde; denn alle Schriften sind heilig, aber das Hohelied ist das Allerheiligste. Wäre die Tora nicht gegeben worden, hätte die Welt allein durch das Hohelied regiert werden können.“ (Mishna Yadaim 3,5) Das Lied der Lieder, eines der provokativsten und aufrührerischsten Bücher im TaNaCh, ist zur Hymne der ewigen Liebe zwischen Gott und seinem Volk geworden und wurde von den Rabbinen ausgewählt, um uns in den Pessachtagen zu begleiten. Denn aus der Sicht der Rabbinen ist die ganze Pessachgeschichte diesem Thema gewidmet: aus Liebe befreite Gott uns aus der Sklaverei; aus Liebe gab Er uns Seine Lehre, aus Liebe erneut Er täglich Seine Schöpfung, mit der Hoffnung, dass wir ihm mit Liebe antworten. (Mishna Yadaim 3,5)
Heute, da die Welt von zahlreichen Konflikten erschüttert ist, müssen wir die Stimme der Liebe erheben. Als jüdisches Volk tragen wir die Verantwortung für die Bewahrung dieses Gottesgeschenks. Möge dieses Pessachfest für uns zum Fest der Befreiung von Vorurteilen, Hass, Intoleranz und Feindschaft in unserer Gesellschaft sein. Denn nur dann können wir alle die echte Freiheit erreichen und die Stimmen, die von einem Lied der Liebe vereint sind, hören.
Pessach Sameach! – Ein frohes Pessachfest!
Rabbinerin Natalia Verzhbovska